Stefanie Bickel

Im Angang ist das Spiel


Das Thema:

»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« (Friedrich Schiller)

Dieses Zitat von Friedrich Schiller steht der Ausstellung als Motto voran. Der Satz hört sich nicht nur gut an und wurde von einem der bedeutendsten Dichter und Denker Deutschlands geschrieben (über den gerade ein romantischer Film in die Kinos gekommen ist), er hat auch eine weitreichende Bedeutung: Der Mensch, der spielt, entwirft in seinem Spiel, er gestaltet, schafft neue Welten, mit eigenen Regeln, er ist kreativ und ganz bei sich selbst. Der spielende Mensch wird von Friedrich Schiller als ein Gegenentwurf zum vernünftigen Menschen der Aufklärung entworfen. Schiller empfand das Menschenbild Kants beherrscht von der Diktatur des Verstandes. In seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung beschreibt der Dichter den Spieltrieb als eine Symbiose von »sinnlichem Trieb / Leben« und »Formtrieb / Gestalt«. Lebende Gestalt ist Schönheit in weitester Bedeutung. Leben nimmt Form und Gestalt an. Das freie Spiel bildet neue Formen, schafft neue Schöpfung und (kann) zur ästhetischen Kunst werden. Dabei denkt auch Schiller ähnlich wie Kant in dualistischen Begriffen: Notwendigkeit und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Erkenntnisvermögen, Willkür und Gesetz sowie Natur und Kultur stellen das Spannungsfeld des menschlichen Lebens dar. Das SPIEL jedoch kann den Dualismus überwinden, mehr noch: Nach Schiller ist das Spiel die einzige menschliche Leistung, die in der Lage ist, die Ganzheitlichkeit der menschlichen Fähigkeiten hervorzubringen. In einer Zeit, in der Kinder wie kleine Erwachsene behandelt wurden, war dieser Blick auf das Spiel nicht nur neu, sondern wegweisend.

Erst seit jüngerer Zeit, seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, hat sich in der Wissenschaft der Begriff des Homo ludens (dt. der spielende Mensch) als Gegenentwurf zum Homo faber (dt. der arbeitende Mensch) etabliert. Im Spiel, durch das Spiel, spielend entwickelt der Mensch einen Freiraum. Wer spielt, vergisst die Umwelt. Im Spiel versenkt sich der Mensch in sein eigenes Tun. Spielen ist zweckfrei. Es hat (zumindest keinen unmittelbaren) Nutzen, es stellt nichts her und zeigt keine Ergebnisse.
Spielen tun zunächst vor allem Kinder. Ob mit Blättern und Stöcken oder mit vorgefertigtem Spielzeug, ob mit anderen oder mit sich selbst, die Kindheit ist die Zeit des Spiels. Aber auch der erwachsene Mensch hat Freude und Lust am Spiel um seiner selbst willen. Ob Spiel im Sport, spielen mit Hunden oder Kindern, ob spielen in Gesellschaft oder vernetzt im Internet, im Spiel werden die Rollen des Berufslebens abgelegt und neue angenommen, der Mensch kommuniziert mit seinen Mitspielern neu und anders und spürt sich selbst.
Nach Johan Huizinga entwickelt der Mensch seine Fähigkeiten vor allem über das Spiel.1 Er entdeckt im Spiel seine individuellen Eigenschaften und wird über die dabei gemachten Erfahrungen zu der in ihm angelegten Persönlichkeit. Spielen wird dabei der Handlungsfreiheit gleichgesetzt und setzt eigenes Denken voraus. Der Mensch braucht das Spiel als elementare Form der Sinnfindung.2

Mit dem 20. Jahrhundert beginnt auch in der Kunstgeschichte das freie, spielerische Schaffen, das intuitiv und spontan, nach eigenen Regeln und Konzepten vorgeht. Bekanntes wird zerlegt, neu kombiniert, variiert, gesammelt, arrangiert und narrativ erzählt. Kunst kann geschaffen werden ohne Studium, ohne Kenntnisse der Antike oder der Ikonographie, ohne Proportionstudien oder Zeichenübungen. Die Inanspruchnahme des Unbewussten durch die Surrealisten, der Zweifel an allem Althergebrachten durch Dada, die kinetischen Skulpturen eines Alexander Calder, die antiintellektuelle Kunst von Jean Dubuffet, der sich direkt von Kinderzeichnungen inspirieren ließ, all dies und vieles weitere bereitet den Boden der spielerischen Kunst, des künstlerischen Spiels. Kreative Prozesse sind bis zu einem gewissen Grad immer spielerisch. Denn spielen hat immer mit Bewegung zu tun. Man bewegt sich selbst, den eigenen Körper, man bewegt Gegenstände und das Denken, und durch die Bewegung kommen die Dinge ins Fließen und Ideen können entstehen.

Eine ganze Reihe von Künstlern, unter ihnen Pablo Picasso, Joan Miró und Paul Klee sammelten Kinderzeichnungen. Paul Klee sah in ihnen sogar die »Uranfänge« der Kunst. Tatsächlich ist es so, dass alle kleinen Kinder ausnahmslos Freude und Interesse an bildender Gestaltung haben. Kinder zeichnen, malen, kneten, matschen und spielen. Erst später, wenn der Vergleich mit anderen einsetzt und die Vorstellung, dass bildendes Tun Dinge abbilden sollte, distanzieren sich viele kleine und große Menschen vom künstlerischen Tun. »Das kann ich nicht« wird zur großen Blockade, sich weiterhin bildnerisch zu äußern. Auch in der Betrachtung von Kunst kann man erleben, dass Kinder und Jugendliche unbefangener als Erwachsene Kunstwerken begegnen. Wo der erste Ausruf eines Kindes ist: »Das sieht aus wie …« oder »Kann ich das ausprobieren?«, sagen Erwachsene: »Das verstehe ich nicht« oder »Das könnte ich aber auch« (wahlweise »Das könnte meine vierjährige Tochter aber auch«), deshalb, so die Schlussfolgerung, »kann es keine Kunst sein«.

Kinder sind mit ihrer Weltwahrnehmung und ihrer Sichtweise dabei den Künstlern oft sehr viel näher als ihre Eltern, die bereits (nach Schiller) von der Diktatur des Verstandes beherrscht werden. Statt Kindern künstlerisch etwas beibringen zu wollen, ist es deshalb häufig viel sinnvoller, die Bereitschaft zu entwickeln, von den Kindern zu lernen. Denn das freie Spiel ist eine Grundvoraussetzung für Kreativität und wesentlicher Bestandteil künstlerischer Arbeit. Deshalb bleiben viele Künstler im Herzen ein Stück Kind. Kinder versenken sich in ihr Tun und vergessen Raum und Zeit, sie spielen, und das hat seinen eigenen Wert.

Die Ausstellung in der Walkmühle vereint aus diesem Grund auch neben Bildern und Objekten eine Reihe von Installationen, die temporär sind, kein beständiges Produkt und kein veräußerbares Objekt. Sie entstehen aus einem spielerischen Akt, aus der puren Lust des »Ausprobierens«. Außerdem gibt es einen Raum mit 11.000 Bauklötzchen, in dem die Besucher selbst spielen können und Vorgefundenes verändern. So können sie in dieser Ausstellung eine künstlerische Gestaltungsfreiheit jenseits von Nutzen- und Funktionsdenken erfahren – ein Aufatmen und eine Entlastung in einer Zeit, in der keine Minute nutzlos verstreichen darf.




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Einladung zum Download:



Tatjana Basting: "Kettengesicht", 2014,
Tusche, Bleistift und Kohle auf Papier



Udo W. Gottfried: "Wenn ich mich erinnere", 2010-2012

Holroller, Holz


Alice Stäglich: "Vehicle 1", 2012
Stahl



Peter Sauerer: "Pietro Baretta M1934, Cal. 9mm corto ",
Holz, Schnur, 2009



Patricia Waller: "Bedside Rug", 2007
Wolle, Stoff, Kunststoff, Häkelarbeit.
Courtesy Galerie Deschler