Edgar Diehl


figürlich, abstrakt, konkret – grenzgänger der konkreten kunst

Die Kunstgeschichte überliefert, dass die Konkrete Kunst 1911 mit dem ersten Aquarell von Wassily Kandinsky und 1913/15 mit dem berühmten »Schwarzes Quadrat auf weißem Feld« von Kasimir Malewitsch begann. Was damals Pionierstaten waren und in der Zeit danach die erneuerungsfreudigen Künstlerkollegen befruchtete, ist heute ein wichtiger – wenn auch den Rummel des Marktgeschehens mit Gelassenheit betrachtender – Zweig der Bildenden Kunst.

»Konkrete Kunst« ist nicht konsumierbar. Sie stellt Anforderungen an den Betrachter. Sie will wahrgenommen werden. Die künstlerische Wahrheit ist ihr ein Anliegen und formale Reduktion ihr Mittel dazu. Der Betrachter wird nicht unterhalten. Es wird erwartet, dass er sich einlässt auf Neues; z. B. eine Seh-Erfahrung, bei der die Gesetze des Sehens selbst transparent werden. Statt wie im Film oder der Literatur die Erfahrung des Autors übermittelt zu bekommen, erfährt sich der Rezipient vor dem künstlerischen Werk zu einem gewissen Grad selbst. So könnte man in zeitgenössischer Sprache ausdrücken, wie sich die Pioniere der Konkreten Kunst zu ihren Werken und zu ihren Betrachtern stellten.

Zu Popularität hat dieses Konzept sicher nicht geführt, aber es hatte und hat eine große Wirkung auf die Gestaltung unserer Welt. Konkrete Kunst hat über die angewandten Bereiche, die daraus entstanden, unsere künstlich geschaffene Welt geprägt. Es gibt kein künstlerisches Konzept, das unsere Lebenswelt so umfassend und nachhaltig beeinflusst hat wie diese Auffassung von Reduktion, Klarheit und Harmonie. Das 1919 gegründete Bauhaus nahm diesen neuen Ansatz auf und trug ihn in die angewandten Bereiche, in das Design, die Architektur, die Raumgestaltung und die Mode.

Der Begriff »Konkrete Kunst« wurde erstmals 1930 im »Manifest von Paris« inauguriert. Verwandte Ansätze bildnerischen Schaffens trugen damals je nach Gruppe der Künstler, die sich zusammentaten, verschiedene Namen. Konstruktivismus, Futurismus, Kubismus, Neoplastizismus, de Stijl etc. Bereits in den 40er Jahren wurde der Begriff unter den Künstlern, die in dessen Tradition arbeiteten, aber auch theoretisch interessiert waren, diskutiert. Vordemberge-Gildewart sprach von »absoluter Kunst«! Hans Arp behielt den Begriff bei, definierte ihn aber offener: »Die abstrakte Kunst {am Ende des Textes erklärt er, warum er sie konkret nennt} verzichtet auf das Gegenständliche und ihre Verarbeitung. Sie schafft sich die Ausdrucksformen selbst. Wie das geschieht, ist eine komplizierte Frage. Ich könnte nur eins sagen: Meiner Überzeugung nach soll dieser schöpferische Weg ein synthetischer sein. Das heißt Gefühl (Intuition) und Kopf (Berechnung) arbeiten unter gegenseitiger Kontrolle«. Dieser Diskurs hält bis heute an. Die Schärfung und Erweiterung dessen, was Konkrete Kunst bedeutet, bleibt ein Thema.

Wenn man mit Kunst umgeht und besonders, wenn man sie erschafft, erfährt man, wie sehr unser Bezug zur Welt gerade von Bildern geprägt wird, die von Menschen geschaffen wurden. Unsere Wahrnehmung, das Sehen, ist ein Prozess der aktiven Selektion und Neugestaltung der einströmenden Sehdaten. Gerade Maler, Bildhauer und andere Bildgestalter, deren Beobachtungsgabe das wichtigste Werkzeug ihrer Arbeit darstellt, werden immer wieder damit konfrontiert, dass das Bild, das sich der einzelne macht, immer kleiner und spezieller ist als das, was wahrgenommen werden könnte und sich damit von dem unterscheidet, was ein anderer an derselben Stelle wahrnimmt. Zugleich wird klar, dass die Dechiffrierung der Wahrnehmungsdaten immer den Bildangeboten folgt, die die visuelle Kultur uns vorschlägt. Wir sehen die Welt in Bildern, die wir zu sehen gelernt haben. Sich darüber bewusst zu werden bedeutet, dass der Realitätsbezug seine Selbstverständlichkeit oder auch Naivität verliert.

Die bildende Kunst ist die hohe Schule des Sehens! Alle Künstler haben eine eigene, reflektierte und individuelle ausgeprägte Beziehung zur sichtbaren Welt. Sie schaffen sich eigene Bilder, die ihre Wahrnehmung leiten. Die Kunstgeschichte zeigt, wie die Künstler der verschiedenen Epochen »ihre« Sicht der »Realität« in ihren Bildern zum Ausdruck bringen. Oft haben sie damit die Sehweise der Zeitgenossen angegriffen, um in der Folge deren Sicht neu zu prägen. Ein schönes Beispiel ist der deutsche Maler der Romantik, C. D. Friedrich. Er hat eine Anschauung der Natur angeboten, die eine Armee von Kollegen, Malern und Fotografen beeinflusst hat. Unser spezielles deutsches Bild von der verehrungswürdigen Natur und unseren speziellen Bezug zur Landschaft sowie unsere Führungsposition in den Bemühungen zu deren Schutz, hat C. D. Friedrich sicher mit geprägt.
Die Bilder und Formen, die uns die Welt anbietet, sind für uns Augenwesen faszinierend. Es ist eine Lust, Menschen, Architektur und Landschaften zu betrachten. Jede Form, jeder Gegenstand ist für uns Menschen zugleich auch mit Gefühlswerten verbunden, das ist eine der Eigenschaften unserer Wahrnehmung. Diese Gefühlswerte wurden hin und wieder selbst zum Gegenstand und Inhalt, und wurden selbst Themen von künstlerischer Gestaltung. Besonders deutlich ist das im Expressionismus.


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Wolfgang Berndt: »ri_015b«, 2009
Pigmentdruck auf Fotopapier, Aludibond, laminiert
(Foto ©Wolfgang Berndt)


Nicholas Bodde: »No. 661 oval« o.T.
Öl und Acryl auf Aluminium
(Foto ©Nicholas Bodde)


Manfred Graf: »Aus-ufernd«, 1997
Collage, Schieferleimfarbe auf Holz geschliffen,
Ölfarbe, Kasein poliert
(Foto ©Manfred Graf)


Raimer Jochims: »Ethos IV«, 2007
Acryl auf Spanplatte
(Foto ©Raimer Jochims)