Stefanie Bickel


motiv: architektur

Motiv. Architektur. Zwei Worte nur. Kurz, knapp. Die Bedeutung? Gewaltig. Architektur begleitet die Menschwerdung. Architektur ist der umfassendste, gewaltigste Ausdruck in der Kunst. In der Architektur entwickelt sich das Gesicht einer Gesellschaft, einer Zeit, einer Kultur. Wir alle bewegen uns in Architektur. Sie prägt unser Lebensgefühl, unsere Identität, unsere körperliche Empfindung. Architektur entwickelt Räume. Private und Öffentliche. Große und kleine, schöne und hässliche. Wir verehren Architektur, und wir hassen sie. Wir kommen aber nicht um sie herum. Wir leben in ihr. Überall auf der Welt. Sie ist alltäglich und besonders. Dauerhaft, repräsentativ, funktional, improvisiert, den Bedürfnissen, den Auftraggebern, dem Geld geschuldet.

Architektur ist nicht nur der Rahmen, in dem sich der Mensch bewegt, sie war auch schon früh Thema in der Kunst. In den Bildern der Renaissance, wie zum Beispiel bei Mantegna oder Raffael, entfalten sich Räume, wölben sich Kassettendecken, verleihen antike Friese den Szenen Bedeutung und täuschen atemberaubende Perspektiven Tiefe vor, wo keine ist. Es gab aber auch eine ganze Reihe von Künstlern, die sowohl als Maler oder Bildhauer tätig waren wie auch als Architekten. Michelangelo Buanorotti, Leonardo da Vinci, Raffael oder Gian Lorenzo Bernini prägten das Gesicht ihrer Zeit nicht nur durch ihre Bilder und Skulpturen, sondern vor allem durch ihre Architektur. Kirchen, Plätze, Türme, Festungsanlagen haben die Künstler entworfen. Für die Architektur und die schönen Künste galten die gleichen Gesetze. Proportionen, Maße, Symbole. Hand in Hand gingen Malerei, Bildhauerei und Bau. Man findet in der Kunst der Renaissance und des Barock sowohl Architektur in der Kunst als auch Kunst für Architektur. Fresken – Decken- und Wandmalerei, Supraportebilder, Bilder, die für bestimmte Stellen innerhalb eines Raumes entstanden und ähnliches. Bilder erhöhten oder vertieften Räume.

Architektur kann als Gesamtkunstwerk entwickelt werden. Es gibt aber genauso gut Architektur, die ohne jeden Bezug zur Kunst und ohne künstlerischen Anspruch entstanden ist. Zweckbauten, denen keine Proportionsstudien vorausgingen, in denen sich kein Dekor findet, keine raffinierte Lichtführung und keine Materialien, die Räume zum Schwingen bringen. In den Städten findet sich wuchernde Architektur, die sich ohne Bezug zum Umraum, zur Historie oder auch nur zur Vernunft einer Statik oder Straßenführung fortpflanzt. Architektur schließlich meint auch nicht nur Häuser. Architektur, das sind auch: Straßen, Brücken, Kanäle, Kaianlagen, Bahnhöfe, Krankenhäuser, Flughäfen, Rollbahnen, Dämme - oder im weitesten Sinne sogar Zäune.

Architektur folgt immer einem Zweck. Und sie schafft Welten. Schließlich gibt es auch die vergessene Architektur. Brachen, Hinterhöfe, verlassene Städte, Dörfer, Gebäude. Architektur wird immer für menschliche Bedürfnisse gebaut. Wenn der Mensch sie nicht mehr nutzt, wird sie unheimlich. Ruinen, Geisterstädte, tote Räume, in denen Vergangenheit spürbar wird. Stille, leere Orte. Wir werden durch Architektur immer körperlich angesprochen und ganz unmittelbar. Niemand kann sich der Wirkung einer niedrigen Decke oder eines engen Raumes entziehen. Wir erleben den Raum durch sein Verhältnis zu unserer Größe und unserem Maß. Die Sinne, die Licht und Temperatur, Feuchtigkeit, Geräusch und Geruch wahrnehmen, vermitteln uns einen unmittelbaren Bezug zu dem uns umgebenden Raum. Fühlen wir uns wohl, wollen wir an einem Ort bleiben oder entwickelt sich ein Gefühl der Einsamkeit und der Bedrohung? Wird vielleicht sogar ein Fluchtimpuls ausgelöst?

Der Traum von Architektur kann kippen in einen Albtraum – Städte ohne Menschen, Häuser ohne Menschen, eine Welt ohne Fenster, ohne Farben, ohne Himmel.

Es gibt auch eine Architektur der Gewalt. Militärische Bauten. Bunker, Gefangenenlager, Gefängnisse oder Konzentrationslager haben eine eigene Architektur entwickelt. In der Verweigerung der elementaren menschlichen Bedürfnisse nach Licht, Luft und Raum, kann eine solche Architektur schon an sich Gewalt ausüben, selbst ohne die Aktionen der dort herrschenden Autoritäten. Aber auch Wohnhäuser können Gewalt zumindest fördern, wenn sich in der Architektur Anonymität, Masse und Gleichgültigkeit ausdrückt.

Architektur existiert in der Welt des Menschen. Sie ist ein Gegenentwurf zur Natur. Manchmal findet sie eine Harmonie mit der Umwelt, häufig tut sie ihr Gewalt an. Boden wird verschlossen, Bäche und Flüsse werden begradigt, Steinbrüche aus der Erde gerissen, Küsten verbaut, Sümpfe trockengelegt. Landschaft wird zerschnitten, ausgetrocknet, zersiedelt, zerstört. Industrie- und Gewerbegebiete fressen sich in die Welt. Architektur entwirft die Welt des Menschen, und sie spiegelt seine Bedürfnisse, seine Wirtschaftstrukturen, seine Staatsentwürfe.

In dieser Ausstellung finden Sie Werke von 15 Künstlern. Sie alle thematisieren Architektur im weitesten Sinne: Gebäude, Lichter und Räume. In verschiedensten Techniken, von der Skulptur über die Malerei und die Fotografie bis hin zur Installation, finden Sie Innen und Außen, Zelte und Häuser, bevölkerte und menschleere Orte. Tag und Nacht, grelle Farben und ausgeblichene Flächen zeigen Vertrautes und Fremdes.

Die Arbeiten von Ina Weißflog erscheinen wie klaustrophobische, traumhafte Erinnerungen. Wände und Decken sind verdreht, auf den Kopf gestellt. Möbel, Tapeten, Gardinen und Teppiche erzeugen ein Gefühl von Bekanntem, Eigenem in Form von Geschichte. Wer hat sie nicht schon gesehen, solche Räume? Bei der Oma, in der billigen Pension, bei einem Putzjob in der Studienzeit, bei einem Blick durchs Fenster. Eine Form von Identität findet sich da wieder, eine Art von Zuhause. Die Arbeiten zeigen alle ein Innen, aber dieses ist leer, unbewohnt, verlassen. Die Räume stürzen, falten sich zusammen und wieder auseinander, reißen die Blick zur Decke hoch und wieder zu Boden und bringen den Betrachter ins Schwindeln.
Architektur schafft Räume, die letztlich alle ein »Innen« haben. Sie werden betreten, in ihnen wird gelebt, und sie erzählen dadurch immer auch von Privatem, von Familie und von Geschichte. Häuser sind wie eine zweite Haut, sie schützen vor der Witterung, sie kleiden ein, sie beherbergen uns.

In den Papierarbeiten von Simon Schubert öffnen sich dem Betrachter Räume mit Holzböden und Wandvertäfelungen, Treppenaufgängen, Flügeltüren und hohen Fenstern. Das Innere einer Villa wird erahnbar. Sie ist aber leer, die Perspektiven sind steil und die Bilder erscheinen wie Geister. Der Künstler hat seine Räume nicht gezeichnet, sondern gefaltet. Sein Material, das Papier, wird von keinem anderen überlagert, keine Kohle, kein Grafit, keine Farbe lenkt die Wahrnehmung des Betrachters von der Haptik des Werkstoffes ab. Das Papier wölbt sich nach außen und nach innen, es wird gefaltet und geknickt - es bleibt eine Ahnung, was wir sehen.

Die Linien, die den Arbeiten von Simon Schubert Struktur geben, sind auch bei den Arbeiten von Wolfgang Ellenrieder wesentlich. In seiner Malerei findet sich häufig ein Nebeneinander von wuchernder, orgiastischer Natur, die die menschliche Existenz beinahe zu verschlingen scheint und klar abgrenzten Flächen, deren Linien als scharfe Kanten in den Bildraum schneiden. Gleichzeitig wird der Betrachter irritiert, denn das Bekannte fügt sich nicht in unsere Seherfahrungen ein. Der deutlich sichtbare Duktus im Hintergrund löst die Illusion des Tiefenraumes wieder auf. Die verschwommene, teilweise fast kritzelig wirkende Malerei taucht die Szenen in eine seltsam surreale Spannung. In einigen Bildern setzen Zelte die geometrische Form ins Bild. Es sind kleine unscheinbare Zelte, die manchmal vereinzelt, manchmal in Reih und Glied im Bild stehen. Auch sie sind Architektur, sind die ephemerste, vielleicht unentschlossenste Arte des Siedelns. Sie bilden einen kleinen Raum um den Körper des Menschen, formen ein Dach in der Natur und grenzen ab, schützen vor Regen und Kälte. Setzen Zivilisation gegen Vegetation.


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Stefan Hoenerloh: Studie zu »Rückstaubgasse«
Öl, Acryl und Pigment auf Papier, 139 x 94 cm, 2009
(Foto ©Stefan Hoenerloh)


Ina Weißflog: »Kapelle«, Fotografie auf Aludibond, UV-Schutzfolie, U-Profil, 91 x 65 cm, 2005
(Foto ©Ina Weißflog)


Simaon Schubert: »o.T. (Treppe und Durchgang)«
Papier, 100 x 75 cm, 2008
(Foto ©Simon Schubert)


Wolfgang Ellenrieder: »Hellenstein«, Pigment, Bindemittel und Öl auf Leinwand, 160 x 200 cm, 2006
(Foto ©Wolfgang Ellenrieder)


Franziskus Wendels: »Landflucht«, Leuchtfarbe auf Fundstücken, Lichtquellen, Zeitschaltuhr. Installation im Künstlerverein Walkmühle, 200 x 150 x 200 cm (variabel), 2011
(Foto ©Franziskus Wendels)