1930 legt Theo van Doesburg den Begriff der Konkreten Kunst in seinem Manifest anlässlich der Gründung der Gruppe »Art Concret« fest. Diese Bezeichnung sollte die Konkrete Kunst von der Abstraktion unterscheiden, da die Konkretion nichts Figürliches in Abstraktion stellt, sondern vom unmittelbaren Umgang mit den »konkreten« Bildmitteln Linie, Farbe, Fläche, Volumen und Raum ausgeht. Die Konkrete Kunst materialisiert Geistiges, besitzt keine symbolische Bedeutung. »Die Malerei ist ein Mittel, um auf optische Weise den Gedanken zu verwirklichen«, erläutert van Doesburg.
Konkret lauteten die Prinzipien des Manifestes so:


1. Kunst ist universell.

2. Das Kunstwerk muss vor seiner Ausführung vollständig im Geist entworfen und ausgestaltet worden sein. Von der Natur, von Sinnlichkeit oder Gefühl vorgegebene Formen darf es nicht enthalten. Lyrik, Dramatik, Symbolismus usw. sind zu vermeiden.

3. Das Gemälde muss ausschliesslich aus rein bildnerischen Elementen konstruiert werden, d. h. aus Flächen und Farben. Ein Bildelement bedeutet nichts anderes als »sich selbst«, folglich bedeutet auch das Gemälde nichts anderes als »sich selbst«.

4. Die Konstruktion des Gemäldes und seiner Elemente muss einfach und visuell überprüfbar sein.

5. Die Technik muss mechanisch sein, d. h. exakt, anti-impressionistisch.

6. Streben nach absoluter Klarheit.

Unterschrieben von Carlsund, van Doesburg, Hélion, Tutundjian, Wantz


Es ging darum, eine universelle künstlerische Sprache zu verwirklichen. Jede Bindung an das Sinnen- und Gefühlsleben wurde als Beeinträchtigung des Universellen durch das Individuelle verstanden. Es ging um die reine Harmonie der Bildglieder und Bildelemente ohne Lyrik und Symbolik. Form und Bild bedeuteten nur sich selbst. Um dieses Ziel zu realisieren, konnte sich van Doesburg nur klare, geometrische Formen vorstellen. Jede persönliche Handschrift war zu vermeiden. Gefühle, Sentimentalitäten genannt, waren herauszuhalten.

Vielleicht war es die Erkenntnis, dass man sich als Künstler in einem zwar abgesicherten, aber auch begrenzten Raum bewegt, wenn man die bekannte gegenständliche Welt abbildet, die dazu führte, dass Männer wie Malewitsch und Kandinsky sich davon frei machen wollten. Vielleicht war es ihr unbändiges Bedürfnis nach Freiheit, das sie dazu führte, einen bisher völlig unbearbeiteten Raum visueller Gestaltung zu öffnen; ohne jeden Bezug zur äußeren Welt. Dass das nur in Grenzen möglich ist, wird heute zum Thema des Diskurses über Konkrete Kunst. Auch die Forderung der Konkreten von damals, Gefühle auszuschließen, ist aus heutiger Erkenntnis über die Arbeitsweisen des Wahrnehmungsapparates fraglich.

Obwohl Max Bill im etwas später erklärten »Manifest der Zürcher Konkreten« sagte: »eine konkrete kunst kann sich gleichermaßen a-geometrischer, amorpher elemente bedienen, also ihre darstellungsmittel aus anderen sphären ziehen als aus der geometrie oder der mathematischen denkweise - und soweit sie die realisation einer bestimmten, objektiv feststellbaren Idee ist.« – beschränkte sich der Formenkanon der meisten Konkreten doch auf geometrische Formen.

Theo van Doesburg sagte: »Die Entwicklung der Malerei ist nichts anderes als die intellektuelle Suche nach der Wahrheit durch die Kultur des Visuellen!« Der Raum, den er und die anderen Pioniere damit aufgestoßen haben, ist keineswegs erforscht oder ausgelotet. In manchen Präsentationen dieser Kunst kann man den Eindruck bekommen, dass es doch der Fall sei. In dem ständigen Widerspruch zwischen lebendiger Kraft und Form neigt eine auf Reduktion angelegte Bildsprache dazu, formal starr zu werden. Die Anlehnung an das mathematisch wissenschaftliche Wissen führte zu einer Verminderung des originär Künstlerischen.
Mich haben diejenigen Künstler interessiert, die aus der künstlerischen Arbeit heraus eine eigene Position zur Konkreten Kunst entwickelt haben.
Einige Künstler kommen durch bewusste Reflexion dazu, andere entwickeln ihre Seh- und Arbeitsweise intuitiv. Einige Künstler, die ich als »Grenzgänger« zeige, lehnen es ab, zur Kategorie der »Konkretion« gezählt zu werden, andere fühlen sich als echte Konkrete, passen aber nicht in die enge Definition derer, die mittlerweile erweiterungsbedürftig ist.

Indes haben alle eine lange Zeit künstlerischer Arbeit im Bereich radikaler, reduzierter, ideengebundener und teilweise spiritueller künstlerischer Arbeit vorzuweisen. Warum nicht an dem großen Projekt der Moderne weiterarbeiten? Gerade der spirituelle Aspekt der Konkreten Kunst hat einen Kosmos geöffnet, bei dessen Erforschung wir noch ganz am Anfang stehen. Der Ansatz der Konkreten Kunst zeigt seine Fruchtbarkeit und Lebendigkeit darin, dass er immer noch diskutierbar ist. Es gibt kaum eine andere Kunstrichtung, deren Praxis und deren theoretische Diskurs so lange lebendig geblieben sind!



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Michael Kolod: »Bordüre«, 2009
Öl auf Gurtband
(Foto ©Michael Kolod)


Antonio Marra: o. T., 2001
Acryl auf Leinwand
(Foto ©Antonio Marra)


Gert Riel: o. T., 2009
Lack auf Aluminium
(Foto ©Gert Riel)


Martin Willing: »Kugel, tangential«, 2006
Chrom-Nickel-Federstahl, gebogen, VA-Platte
(Foto ©Martin Willing)