Ursache und Motor der Flucht ist dabei eine geistig oder instinktiv empfundene Angst. Diese kann die unmittelbare Angst vor dem Tod sein, aber auch Angst vor Über- oder Unterforderung, dem Leben selbst oder vor einer persönlich empfundenen Bedeutungslosigkeit. Die Frage nach dem Wovor flüchten wir? ist jedoch nicht denkbar ohne die Frage nach dem Wohin? Wer flüchtet, der sucht auch stets etwas, und sei es lediglich die Verbesserung seiner aktuellen Lage. An Ziel und Richtung der Flucht zeigt sich ein breites Spektrum menschlichen Denkens und Handelns, und neben den wirklich existenziellen Beweggründen stehen nicht selten geradezu absurde und widersinnige Ausflüchte.
Im ersten Ausstellungsraum kann der Kontrast dieser Bandbreite kaum signifikanter werden. Escobedos »Flüchtlinge« oder Ahmad Rafis verloren im Wasser dahintreibende »Reisetruhe« stehen inhaltlich diametral jener im Hightechdress gekleideten jungen Frau gegenüber, die sich in Stefan Panhans Videoarbeit »Glow« scheinbar sinnentleert und endlos auf einem Crosstrainer abmüht. Körperliche Grenzerfahrung und Fitnesswahn sind dabei nur ein Beispiel für die Flucht von Menschen, denen offenbar sonst nichts Existenzielles fehlt. Überhaupt scheint es den »Gesättigten« keineswegs an Nöten und damit Gründen für eine unentwegte Suche nach dem vermeintlich besseren Leben zu mangeln. Junge Menschen wie Birgid Helmys Skulpturen »Lena« und »Marcus« flüchten via Mobiltelefon in eine virtuelle parallele Kommunikationswelt, die Protagonistinnen bei Wolfgang Dieter Bauer ebenso wie bei David FeBland in die glänzende Oberflächlichkeit von Reichtum, Schönheit und Exklusivität. Religion ist wieder gefragt, die sinnstiftende Idee einer besseren, moralischeren Welt. Aber auch Zerstreuung, Konsum und Drogen.
Nichts scheint einleuchtender als die Flucht der gejagten Tiere vor den Wölfen. Was aber treibt Menschen aus der Mitte unserer gesättigten Gesellschaft in die Flucht? Ist es Überdruss? Eine Sinnkrise? Sind wir womöglich übersättigt und gleichzeitig überfordert? Teilnahmslosigkeit macht sich breit. In Justine Ottos Gemälde »Tathort« – welch wunderbarer Titel – geht unter den entrückten Blicken einer längst über ihr Kinderzimmerdasein hinausgewachsenen jungen Frau ein Spielzeughaus in Flammen auf.
Vielleicht sind wir als Individuen in unserer selbstgeschaffenen Welt gefangen wie die kleinen Figuren in Evelyn Hellenschmidts Plastiken, zwischen verwirrenden käfigartigen Drahtgeflechten. Vielleicht krankt unsere Gesellschaft ja als Ganzes.
Zurückkehrend in den ersten Ausstellungsraum bleibt die Frage, ob Krankheit eine Flucht des Körpers ist, oder ob eine permanente geistige Flucht körperlich krank macht. Andrea Essweins Dokumentation über depressive und an Alzheimer leidende Menschen zeigt eindringlich die Grenzen, an denen das selbstbestimmte Handeln und damit das selbstbestimmte Flüchten endet. Letztlich bedeutet Fliehen auch gleichzeitig Erinnern und Vergessen.